Warum Sokrates niemals schrieb und was wir von ihm lernen können
Sokrates ist einer der bekanntesten Rhetorikcoaches. Von ihm gibt es keinen schriftlichen Text. Für ihn zählte das gesprochene Wort. Was können wir heute von ihm lernen?
Sokrates ist mein Idol. Wie ihr wisst, komme ich aus der sprechenden Zunft und habe meine Herausforderungen mit dem Schreiben. Ich prokrastiniere gern, zweifle und verzweifle an meinen Texten. Und Sokrates hatte dieselben Schwierigkeiten mit dem Schreiben. Von ihm persönlich gibt es keinen Text. Für ihn zählte das gesprochene Wort.
Alles, was wir über ihn, seine Gesprächsführung, seine Philosophie wissen, hat eine Handvoll seiner Schüler und Freunde verschriftet, u. a. Platon, Xenophon, Aischines. Es ist fast aussichtslos, zu erfassen, was für ein Mensch Sokrates war und warum er nicht geschrieben hat. Aber im Folgenden soll es versucht werden.
Sokrates (469 bis 399 v. Chr.) gilt bis heute als einer der größten Philosophen und Rhetorikcoaches. Seine Gesprächskunst war innovativ; seine Kunst des Fragens und Dialogs verglich er selbst mit der Hebammenkunst. Durch Fragen werden unklare Sachverhalte reflektiert, bis neue Erkenntnisse geborenwerden.
Gewöhnlich und außergewöhnlich
Sokrates war gewöhnlich und außergewöhnlich zugleich. In Athen geboren, Vater war Steinmetz, Mutter Hebamme. Er leistete Kriegsdienst, war Matrose und Bildhauer bevor er sich der Philosophie widmete.
Auf den Straßen und Plätzen Athens führte er tiefsinnige Gespräche und wurde recht schnell damit bekannt. Er bemühte sich die Menschen mittels ausgefeilter Fragetechnik zur Erkenntnis und Tugendhaftigkeit zu bringen. Sokrates will seine Gesprächspartner dazu bewegen, über unbedachte Äußerungen nachzudenken und darauf zu achten, was sie eigentlich sagen wollen.
Für seine Tätigkeit nahm er niemals Honorar. Am häufigsten sah man ihn barfuß und in schäbige Gewänder gekleidet. Er war rundlich, trug einen Vollbart, hatte eine dickliche Nase, ungepflegtes Haar - Künstler stellten Sokrates in Skulpturen und auf Gemälden als unattraktiven Mann dar. Schönheit kam für ihn von innen, aus einem reinen Herzen und einem klaren Kopf.
Bei Feiern und Trinkgelagen vertrug er mehr als alle anderen und gehörte zu den letzten Gästen, die sich auf dem Heimweg machten, um aber am nächsten Morgen wieder als erster auf den Beinen zu sein.
Täglich ging er auf den Marktplatz, wo eine Vielzahl von Waren angeboten wurden, um sich zu unterhalten. Das Warenangebot kommentierte er: Wieviel gibt es nur, was ich nicht nötig habe! Er sah den Reichtum vielmehr in einer einfachen Lebensweise.
Sokrates interessierte sich für die Sorgen und Nöte der Bürger und überprüfte durch seine zielgerichteten Fragen die Lebensweisen, Sitten und Wertvorstellungen, damit die Menschen zu neuen Einsichten, sinnvollen Erkenntnissen und einem guten Leben gelangen. Er gab keine Antworten, sondern fragte, damit seine Schüler ihre Antworten selbst finden. Er wollte, dass sein Gegenüber seine Annahmen durch Selbsterkenntnis überdenkt.
Aber nicht jeder Mensch wollte sich seinen kritischen Fragen und Prüfungen unterziehen. Seine Art polarisierte: Vor allem die Jugend war fasziniert und ließ sich mitreißen, Athens Elite jedoch fühlte sich bloßgestellt und fand ihn abstoßend.
Diogenes Laertius beschrieb, dass der Philosoph mit Fäusten traktiert, an den Haaren gezogen und verlacht wurde, worauf er aber immer gelassen reagierte.
War Sokrates verliebt?
Mit knapp fünfzig Jahren heiratete er Xanthippe. Sie kümmerte sich um den Haushalt, Alltag und um die drei Söhne. Über diese Ehe wird bis heute gemunkelt, obwohl sie bis zu seinem Tode hielt. Xanthippe gilt als Inbegriff einer zänkischen, streitsüchtigen Frau, die Sokrates das Leben schwer machte. Dieses Bild stammt allerdings aus Quellen seiner Bewunderer und Schüler, die Sokrates idealisierten. Aristoteles vermutete sogar eine Zweitfrau.
Objektiv betrachtet hatte Xanthippe drei Kinder zu ernähren, während ihr Mann erst spät heimkam und anstatt Geld viele Erzählungen über seine Anstrengungen mitbrachte. Zu seinem Berufsethos gehörte asketische Lebensweise, ärmliche Kleidung und Bedürfnislosigkeit, was er auch von Xanthippe verlangte. Aufgrund einer kleinen Erbschaft funktionierte der Alltag. Aber aus Sicht mancher Nachbarn war Sokrates ein Müßiggänger, der eigentlich für seine Familie Geld verdienen sollte.
Sokrates in Zeiten der Medienrevolution: Schreiben ist nichts Häßliches
Sokrates lebte in einer Zeit der Medienrevolution: Das Alphabet und neue Schreibmaterialien waren ein entscheidender Schritt in die Schriftkultur.
In einem Gespräch mit seinem Freund Phaidros kritisiert Sokrates schriftliche Texte: Wer Inhalte in Schriften verfasst und auch, wer sie liest, in der Meinung, dass etwas Deutliches und Sicheres durch die Buchstaben kommen könne, ist einfältig. (Platon, Phaidros, 47d)
Schriftliche Texte werden von einigen Menschen gelesen, die sie verstehen und von anderen, die sie nicht verstehen. Kein Autor kann darauf Einfluss nehmen, wie sein Schreiben verstanden wird. Nur ein guter Redner ist in der Lage, situations- und adressatengerecht zu reden, sowie auf die Reaktionen und Fragen seiner Zuhörer zu reagieren.
Sokrates weiter: Du könntest glauben, die Texte sprächen, als verständen sie etwas, fragst du die Texte aber über das Gesagte, so bezeichnen sie doch stets ein und dasselbe. (Platon, Phaidros, 47d)
An anderer Stelle sagt er: Redenschreiben an sich ist nichts Hässliches (Platon, Phaidros, 27d). Später ergänzt Sokrates: Schreiben ist hilfreich, wenn die Schrift als Speichermedium für Erinnerungen genutzt wird; wenn man ein gewisses Alter erreicht hat, wird man sich daran erfreuen. Mit dem Schreiben kann man spielend die Zeit verbringen.
Sokrates lehnt also die Schrift nicht pauschal ab, sondern unterscheidet die Funktion.
Sokrates Philosophie ist immer noch bedeutsam
Die Philosophie Sokrates zeigt immer noch aktuelle ethische Merkmale. Es geht ihm um
· Reflexion, Selbsterkenntnis, Tugendhaftigkeit
· Bewusstsein der eigenen Grenzen und Unwissenheit
· Eigensinn und Bescheidenheit
· Dialog als Mittel zur Erkenntnisgewinnung und Persönlichkeitsentwicklung
· Selbstfürsorge durch moralische und philosophische Lebensführung
· Humor und Gelassenheit
Als Sokrates siebzig Jahre alt war, wurde ihm vorgeworfen, die Jugend zu verderben und die Götter nicht anzuerkennen. Was vielen Athenern suspekt erschien: Sokrates behauptete, von einer göttlichen Stimme geleitet zu werden – seinem Daimonion. Daimonion teilte sich Sokrates seit seiner Jugend akustisch als innere Stimme mit. Sokrates schätzte Daimonion als unfehlbare Instanz und befolgte teilweise gegen seine Einsicht die Anweisungen. Nach dem Motto: Irrtümer sind menschlich, das Daimonion ist göttlich.
Im antiken Griechenland, wurde der Kontakt zu Göttern nur von Priestern und Sehern hergestellt. Dass Sokrates oft und gern von seinem Daimonion sprach, war so seltsam, dass die Anklage darauf fußte und ihm vorwarf, neue dämonische Wesen einzuführen, nicht an die verehrten Götter zu glauben und die Jugend zu verderben.
Er verteidigte sich allein, denn die damalige Gerichtsbarkeit kam ohne Staatsanwälte und Verteidiger aus. Richterschaft und Mitbürger hatten bei der Urteilsfindung Mitspracherecht.
Er verteidigte sich souverän, widersprach der Anklage, dass er der Jugend nicht geschadet, sondern sie gebessert habe und es sah so aus, als würde er mit einer Geldstrafe davonkommen. In einer seiner letzten Verteidigungsreden bezichtigte er die Ankläger allerdings mehrfach der unverschämten Lügen. Er verlor Sympathien, setzte sich auch nicht für eine mildere Strafe oder sinnvolle Gegenvorschläge ein, sondern beharrte darauf, dass er im Falle eines Freispruchs sein Wirken fortführen werde.
Das Ende von Sokrates' Leben und was danach passierte
Daraufhin wurde mit einer knappen Mehrheit das Urteil gefällt: Todesstrafe.
Freunde und Schüler wollten ihn retten und ins Exil bringen. Doch Sokrates fühlte sich an das Gesetz gebunden, verbrachte 30 Tage in Haft. In der letzten Zusammenkunft mit seinen Freunden philosophierte er über das Sterben und die Unsterblichkeit der Seele. Er war sicher, dass Sterben eine Reise an einen anderen Ort ist, wo andere Verstorbene sind – er erwartete Herrlichkeiten.
Gelassen trank er den Schierlingsbecher, merkte wie seine Beine schwer wurden, legte sich hin und starb.
Nach dem Tode Sokrates geschah eventuell noch etwas Ungeheuerliches: Einem Schüler, Aischines, wird nachgesagt, dass er durch Xanthippe an Sokrates Schriften gelangt sei und sie als die eigenen ausgegeben hat.
Hat Sokrates also doch geschrieben? Es bleibt ein Rätsel.
Und heute?
Erleben wir derzeit eine weitere Medienrevolution?
Wir nutzen soziale Medien, Podcasts und YouTube, WhatsApp, Slack etc., sowie KI-Technologien, um effizienter zu kommunizieren.
Das Resultat sind schnelle, asynchrone Dialoge. Oder sind es eher aneinandergereihte Monologe?
Wir bekommen Aufmerksamkeit, wenn unsere Beiträge eine hohe Frequenz und Vehemenz haben. Aufmerksamkeit macht glücklich – und erfolgreich!
Ist das die moderne rhetorische Fähigkeit?
Was würde Sokrates sagen?
Ich weiß gar keinen Rat.
Ich weiß, dass ich nicht weiß.
Literatur
Döring, K. (1984). Plutarch und das Daimonion des Sokrates. Mnemosyne, 37(3–4), 376–392.
Laertius, D. (2023). Leben und Lehre der Philosophen (F. Jürß, Übers.). Reclam.
Leonhardt, R. (2019). Sokrates – standfest bis zuletzt. In Modern Heroes (S. 29–33). Springer Fachmedien. Ludwig, R. (2024). Philosophie für Anfänger. Von Sokrates bis Sartre. Ein Wegbegleiter durch die abendländische Philosophie. (10. Aufl.). dtv.
Platon. (2000). Sämtliche Werke 2: Lysis, Symposion, Phaidon, Kleitophon, Politeia, Phaidros (U. Wolf & B. König, Hrsg.; F. Schleiermacher, Übers.; 2.). Rowohlt Taschenbuch.