Ich unterrichte hybrid und fühle mich zerrissen
Ich stehe als Mutter im Kreidekreis und meine beiden Kinder Online und Präsenz ziehen an mir, buhlen um meine Aufmerksamkeit.
Drei Studierende sitzen vor mir und schauen mich erwartungsvoll an, eigentlich nur zwei; die dritte Person macht irgendetwas mit ihrem Handy. Die letzten Unterrichtstage vor der Sommerpause. Autos rauschen die Straße entlang, die Sonne scheint, der Raum ist heiß. Der Computer brummt und ich sehe gesichtslose, stumm Gesichter auf dem Monitor. 29 Personen. Ich habe die meisten dieser Studierenden habe ich noch nie zuvor gesehen. Gesichtslose und stumme Bilder auf meinem Monitor, die ich später in die Anwesenheitsliste als anwesend eintragen werde.
Was machen diese 29 Studierenden gerade? Wer hört zu? Wer ist schon längst körperlich oder mental abwesend? Wer wird später seine Abwesenheit bestreiten und mir mailen, dass er doch anwesend war. Ich korrigiere immer die Anwesenheitsliste und trage die entsprechende Person ein, obwohl ich gar nicht weiß, ob es stimmt: Eingeloggt heißt nicht anwesend; aber wir verwenden die Begriffe synonym.
Das Phänomen eingeloggt vs. anwesend zeigt sich auch hin und wieder nach Beendigung des Unterrichts. Ich verabschiede mich aus dem Unterricht, sehe wie die meisten Studierenden von meinem Monitor verschwinden. Ein paar Studierende bleiben noch online. Sind sie also doch anwesend? Nach über einer Stunde schaue ich aus Spass manchmal wieder in die Online-Klasse. Noch immer sind einige Personen eingeloggt. Stumm und unsichtbar zeigen sie Ihre Anwesenheit auf dem Bildschirm.
Sind sie euphorisch und hypnotisiert von meinem längst beendeten Unterricht und lassen ihn noch auf sich wirken? Sind sie eingeschlafen? Ist es ein stummes Alarmsignal?
Hybrider Unterricht ist herausfordernd, wenn eine Minderheit vor Ort und eine Mehrheit stumm, unsichtbar Online ist. Ich bin allein und muss mich um beide Gruppen kümmern. Zu wem spreche ich? Zur stummen, unsichtbaren Mehrheit oder zu dem Trio im Raum. Ich entscheide mich immer öfter für Letzteres. Die Interaktion mit den Online-Studierenden ist zäh. Wie ein Dauerentertainer versuche ich der stummen, gesichtlosen Masse irgendeine Reaktion zu entlocken. Manchmal sage ich: Schickt doch mal ein virtuelles Emoji. Dann flackert für wenige Sekunden ein Daumen oder ein Smiley auf. Ich bin glücklich. Ich bin nicht allein! Wir kommunizieren, zwar auf einer ganz niedrigen Ebene, aber egal.
Es gibt auch besondere Momente: Es gibt eine Frage aus dem Online-Raum! Ich fasse es nicht - ein echtes Gespräch! Bin aufgeregt und denke: Okay, eingeloggt und anwesend und kommunikativ! Wenn ich Online eine Studierende zum Reden finde, bleibe ich wie ein Pitbull an ihr dran und versuche das Gespräch aufrecht zu halten. Sie ist zwar weiterhin unsichtbar, aber über gute Lautsprecher für alle im Raum hörbar. Ein Lottogewinn!
Volltreffer!
Es fühlt sich an, als hätte ich beim Fußball ein Tor geschossen. Bähmmm. Ich habe es geschafft. Ich habe mein Thema so gut rübergebracht, dass ich das Interesse einer distanziertem gesichtslosen Online-Teilnehmerin geweckt habe. Wir unterhalten uns kurz. Ich kann meine Freude kaum zügeln und schon gar nicht verbergen. Es ist ein kleiner Sieg, aber ein bedeutender.
Ich bin überglücklich. Meine Blicke wandern zu meinen Studierenden im Raum, ich möchte auch ihre Begeisterung sehen. Mein Lächeln friert ein. Der Raum verliert 5 Grad an Temperatur. Mein Trio ist gelangweilt. Ich habe sie komplett verloren. Zwei Studierende reden miteinander und die dritte tippt irgendetwas in ihr Handy. Sie sehen alle gelangweilt aus. Niemand hört zu.
Mein Atem geht schneller.
Ich fühle mich wie im Kaukasischen Kreidekreis von Bertold Brecht. In dieser Legende geht es um eine leibliche Mutter, die das Recht verloren hat, ihr Kind aufzuziehen. Stattdessen hat das Küchenmädchen das Recht erhalten. Der Streit eskaliert. Der Richter will mit einem Kreidekreis herausfinden, wer die richtige Mutter ist. Das Kind wird in die Mitte gestellt und die richtige Mutter soll die Kraft haben, das Kind herauszuziehen. Die Frauen kämpfen, zerren an dem Kind. pDas Küchenmädchen gewinnt. Der Richter spricht das Kind jedoch der leiblichen Mutter zu, da diese das Kind losgelassen hat, um es nicht zu verletzen.
Ich stehe als Mutter im Kreidekreis und meine beiden Kinder Online und Präsenz ziehen an mir, buhlen um meine Aufmerksamkeit.
Wen soll ich loslassen?